Nachdem Erdoğan bei der historischen Stichwahl um das Präsidentenamt mit einem kleinen Vorsprung in seine dritte Amtszeit startet, werden insbesondere von der Kabinettsbildung Rückschlüsse auf den zukünftigen Kurs der Regierung erwartet. Das Oppositionsbündnis aus 7 Parteien sucht derweil eine gemeinsame Richtiline, wie mit der nicht erwarteten Niederlage umgegangen wird.
Aus den Kreisen der beiden grössten Parteien, der nationalistisch-kemalistischen CHP und der rechtsnationalen IYI Partei werden zunehmend Rufe nach Rücktritten der beiden Vorsitzenden laut. Meral Akşener (IYI-PARTEI) gratulierte Erdoğan zu seinem Wahlsieg und kündigte an, dass man die Botschaft der Wähler verstanden habe und entsprechend handeln werde. Sie war Anfang März nach einem Streit um den Spitzenkandidaten kurzzeitig aus der Koalition ausgestiegen, wurde aber wieder zur Rückkehr bewegt. Akşener gilt als ausgesprochene Gegnerin der Kandidatur von Kiliçdaroğlu.
Nach Angaben der Agentur Anadolu erhielt Erdoğan 52,16 % der Stimmen und Kemal Kılıçdaroğlu 47,84 Prozent. Die endgültigen Ergebnisse werden jedoch bald vom Obersten Wahlausschuss (YSK) bekannt gegeben. Entgegen den Aufrufen von Erdoğan und Kılıçdaroğlu, zur Wahl zu gehen, sank die Wahlbeteiligung von 88,8 Prozent auf 85,7 Prozent, was im internationalen Durchschnitt immer noch sehr hoch ist.
Die immer wieder – auch von deutschen Politikern – vorgebrachte Behauptung, Erdoğan hätte nur wegen der Stimmen der Deutschtürken gewonnen, ist mathematisch nicht nachzuvollziehen. Erdoğan erreichte insgesamt 27.768.023 Stimmen, davon 1.077.595 aus dem Ausland und damit 52.16%, Kiliçdaroglu 25.458.036 Stimmen, davon 730.449 aus dem Ausland und 47.84%. Hätten 100% der Auslandswähler:innen für Kiliçdaroglu gestimmt, hätte er 26.535.631 und Erdoğan 26.690.428. Also 49,85% für Kiliçdaroglu und 50,15% für Erdoğan.
Auch in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen, die am 14. Mai stattfand, lag Erdoğan vorne, es reichte aber nicht für einen klaren Sieg. Allerdings gewann die bisherige Regierungskoalition eine deutliche Mehrheit im Parlament. Das hätte die Arbeit einer Regierung unter Kiliçdaroğlu extrem erschwert. Eine Rückkehr zum Parlamentarischen System, eine Kernforderung der Opposition, wäre somit zumindest in der kommenden Legislaturperiode ausgeschlossen gewesen.
Welchen Einfluss hatten Oğan und Özdağ?
Betrachtet man die Wahlergebnisse, so stieg Erdoğans Stimmenzahl, die im ersten Wahlgang 27,1 Millionen betrug, auf 27,7 Millionen; Kılıçdaroğlu hingegen steigerte seine Stimmen von 24,5 Millionen auf 25,4 Millionen bei einer insgesamt niedrigeren Wahlbeteiligung.
Der Präsidentschaftskandidat der ATA Koalition, Sinan Oğan, sprach sich vor der Stichwahl für Erdoğan aus. Ümit Özdağ, der Vorsitzende der stärkeren Partei dieses Bündnisses, erklärte seine Unterstützung für Kılıçdaroğlu. Dabei hat sich gezeigt, dass die Unterstützung Ümit Özdağs, der mit seiner Politik gegenüber Asylbewerbern und seiner harten Rhetorik punkten wollte und über Twitter behauptete, ihm sei der Posten des Innenministers versprochen worden, sich negativ auf Kılıçdaroğlus Stimmen im Osten und Südosten auswirkte. In Diyarbakir verlor daraufhin Kılıçdaroğlu die meisten Stimmen, auch wenn er nach wie vor eine große Mehrheit auf sich vereinen konnte. Kılıçdaroğlu verlor ebenfalls Stimmen in allen anderen Provinzen im kurdisch geprägten Südosten der Türkei, während er im Rest des Landes Zugewinne verbuchen konnte.
In den meisten westlichen Großstädten wie Istanbul, Ankara, Izmir, Antalya, Balikesir und Mersin lag Kılıçdaroğlu bei der Wahl vorne. In den Regionen Zentralanatolien und Schwarzmeer bestätigte Erdoğan seinen großen Rückhalt in der Bevölkerung.
Wann werden die Abgeordneten den Eid leisten?
Die Abgeordneten werden den Eid am dritten Tag nach der Bekanntgabe der endgültigen Ergebnisse der Parlamentswahlen durch die YSK ablegen. In diesem Fall wird die Vereidigung voraussichtlich am Donnerstag oder Freitag stattfinden.
Bis zur Wahl des neuen Sprechers der Versammlung wird MHP-Vorsitzender Devlet Bahçeli als ältestes Mitglied der Versammlung der „vorübergehende Vorsitzende“ sein. Es wird spekuliert, dass der Präsidentschaftskandidat der AKP entweder Vizepräsident Fuat Oktay oder Justizminister Bekir Bozdağ sein wird.
Fünf Fraktionen und 15 Parteien im Parlament
Im Parlament werden 5 Parteien Fraktionen bilden können:AKP, CHP, Yeşil Sol Partei, MHP und IYI-Partei. Insgesamt wird die Rekordzahl von 15 Parteien vertreten sein:, darunter Splitterparteien wie Yeniden Refah, DSP, HÜDA PAR, DEVA, Gelecek, Saadet, Demokrat Parti, Türkiye Değişim Partisi, TİP und EMEP. Diese haben die prozentuale Hürde nicht übersprungen, obwohl diese auf 7 % gesenkt wurde. Sie kamen über andere Parteilisten oder mit einem Bündnis an den Wahlen ins Parlament und haben voraussichtlich insgesamt 45 Sitze erhalten, davon 34 Abgeordnete über das Koalitionsbündnis der Opposition und 11 über das Regierungsbündnis.
Die Parteien DEVA und Saadet, die die Anforderung von 20 Abgeordneten zur Bildung einer Fraktion im Parlament nicht erfüllen können, könnten sich zusammenschließen und eine 6. Fraktion bilden.
Wer wird im neuen Kabinett sein?
Laut Wahlkalender wird das Ergebnis der Präsidentschaftswahl am Donnerstag, 1. Juni, bekannt gegeben. Laut Gesetz muss Erdoğan innerhalb von drei Tagen vereidigt werden. Nach Angaben des Präsidenten wird Erdoğan am Freitag im Parlament den Eid ablegen und am Abend dann das neue Kabinett bekannt geben.
Außer dem parteilosen Gesundheitsminister Fahrettin Koca und Kultur- und Tourismusminister Mehmet Nuri Ersoy haben 15 Minister ein direktes Abgeordnetenmandat errungen. Nehmen sie dieses an, müssen sie ihren Ministerposten aufgeben. Von Ministern, die zuvor dem Kabinett angehörten und nicht wieder ernannt werden, wird erwartet, dass sie an Partei- und Kommissionsverwaltungen im Parlament teilnehmen.
Ob der wegen seiner aggressiven Rhetorik auch in seiner eigenen Partei nicht ununmstrittene Innenminister Soylu in gleicher oder anderer Funktion wieder dem Kabinett angehören wird, ist derzeit offen. Es wird jedoch auch gemunkelt, dass Erdoğan möglicherweise Seyfullah Hacımüftüoğlu ernennen könnte, der seit 2014 Generalsekretär des Nationalen Sicherheitsrats ist. Hacımüftüoğlu, der zuvor Gouverneur von Erdoğans Heimatstadt Rize war, wurde zum Generalsekretär der MGK ernannt, nachdem er zuvor Unterstaatssekretär im Innenministerium war. Ein weiterer Name in Bezug auf das Innenministerium ist der ehemalige Innenminister Efkan Ala.
Es ist bekannt, dass Erdoğan den ehemaligen Finanzminister Mehmet Şimşek erneut für einen Posten innerhalb der Regierung einsetzen will. Şimşek, der auch der DEVA-Partei nahe stand galt aufgrund seiner Bedenken hinsichtlich der aktuellen Wirtschaftspolitik distanziert von der AKP. Es heißt, dass Şimşek Minister werden könnte, wenn es Garantien gegeben würden, dass er seine Entscheidungen problemlos umsetzen könne. Şimşek war zuletzt nicht an der aktiven Politik beteiligt und verwies auf die Beraterverträge, die er über viele Jahre mit internationalen Unternehmen abgeschlossen hatte.
Als Gesundheitsminister ist Necdet Ünüvar im Gespräch, der ehemalige Leiter der Gesundheitskommission und ehemaligen Unterstaatssekretär des Gesundheitsministeriums, der als Rektor der Universität Ankara fungiert.
Obwohl es heißt, dass Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu einer der beiden Minister ist, von denen erwartet wird, dass sie im Amt bleiben, gewinnt der Name von MIT-Präsident Hakan Fidan als Außenminister an Gewicht. Es heißt, dass im Falle einer Ernennung Fidans zum Außenminister der Sprecher des Präsidenten, Ibrahim Kalın, künftig das MIT leiten wird.
Was wird die Volksallianz der Opposition tun?
Die Anführer 7 Oppositionsparteien gaben keine gemeinsame Erklärung ab, und die Botschaft „den Kampf fortzusetzen“ ging aus getrennt abgegebenen Erklärungen hervor. Die Tonalität war indes sehr unterschiedlich. Während Kılıçdaroğlu kein Wort über seine erneute Niederlage oder eine Gratulation für den Wahlsieger hervorbrachte und seine Rede stockend vom Blatt ablas, sich kämpferisch gab mit den Worten „Wir werden weiterhin die Pioniere dieses Kampfes sein, bis eine echte Demokratie in unser Land kommt“ Der Spruch „Unser Marsch geht weiter und wir sind hier“ wurde vielfach als Absage an einen Rücktritt angesehen.
Die Vorsitzende der IYI-Partei Meral Akşener klang dagegen fast gelöst, gratulierte Erdoğan zu seinem Wahlsieg und sagte “Unsere Aufgabe ist es, die Botschaft zu verstehen und das Notwendige zu tun”. Ob sich Kiliçdaroğlu, der gegen den Widerstand von Akşener zum Spitzenkandidaten gewählt wurde, sich weiter halten kann, werden die nächsten Wochen zeigen.
Aus Quellen der IYI-Partei heißt es: „Bündnisse entsteht bei den Wahlen, und sie enden wenn die Wahl vorbei ist. Wenn wir an der Macht wären, würde die Beziehung Koalition heißen. Es gäbe kein Bündnis oder keine Koalition in der Opposition, aber eine Zusammenarbeit. Auch hier behält jede Partei ihre Unabhängigkeit. Das bedeutet nicht, in jeder Hinsicht zusammenzuarbeiten. Wenn unsere Prinzipien nicht zerstört werden, wird die Zusammenarbeit fortgesetzt, aber das bedeutet nicht, immer gemeinsam zu handeln. Jeder ist eine unabhängige Partei.”