Der Tod von Çiğdem Böcek und ihrer beiden Kinder Kadir Muhammet (6) und Masal (3) löst weitreichende Ermittlungen in Istanbul aus. Die vierköpfige Familie aus Deutschland war am 9. November in ein Aparthotel in Fatih eingezogen, wenige Tage später starben Mutter und Kinder an ungeklärten Vergiftungssymptomen. Der Vater kämpft weiterhin auf der Intensivstation.
Inzwischen wurden sieben Personen in Polizeigewahrsam genommen. Der Fall ist komplex, viele Details sind noch unklar – gleichzeitig verbreiten sich zahlreiche ungesicherte Behauptungen.
Die letzten Aussagen der Mutter
Die ausführlichste Darstellung der Abläufe stammt von Çiğdem Böcek, die kurz vor ihrer Intubation im Krankenhaus eine umfassende Aussage abgab. Darin beschreibt sie genau, wo und was die Familie seit ihrer Ankunft am 9. November gegessen hatte:
- Mehrere Mahlzeiten in kleinen Restaurants im Umfeld des Hotels
- Frühstück mit Poğaça und Simit (von außen mitgebracht)
- Am 11. November:
– Midye (mit Reis gefüllte Miesmuscheln) von einem Straßenstand an der Ortaköy-Moschee
– Suppe, Sucuk-Ekmek (scharfe Rindswurst im Brot), Kokoreç (gewürzte Innereien vom Drehspieß) und Tavuk Tantuni (gewürfeltes Hähnchen im Fladenbrot) im Lokal „Golden Kokoreç Midye“
– Lokum aus einem Geschäft in Fatih
In der Nacht zum 12. November traten erste Symptome auf. Am nächsten Morgen suchte die Familie zwei verschiedene Krankenhäuser auf, erhielt Infusionen und Medikamente. Die Kinder bekamen Probiotika, wurden aber nicht zur Beobachtung dabehalten. Am frühen 13. November verschlechterte sich die Lage massiv. Bei der erneuten Einlieferung ins Krankenhaus starben die beiden Kinder, die Mutter starb einen Tag später.
Das Hotel: Selbstversorger-Konzept statt Hotelküche
Die Familie wohnte im Harbour Suites Old City, einem kleinen Aparthotel im historischen Teil Fatihs. Die Unterkunft bietet Self-Catering-Einheiten, also Zimmer mit Küchenzeile oder Kochgeräten.
Es gibt keine Hotelküche und keinen angeschlossenen Restaurantbetrieb. Alle Mahlzeiten der Familie stammten folglich aus externen Restaurants, Straßenverkaufsständen oder Geschäften.
Dieser Punkt ist wichtig, weil mögliche Ursachen im Hotelbereich daher eher in Gebäudetechnik, Wasser, Reinigung oder Schädlingsbekämpfung liegen könnten, nicht in einer nicht existierenden Hotelküche.
Zwei weitere Hotelgäste erkrankten – 15 blieben symptomfrei
Kurz nach dem Tod der Mutter wurden zwei weitere Gäste des Hotels – ein italienischer Tourist und ein marokkanischer Koch – mit ähnlichen Beschwerden (Übelkeit und Erbrechen) ins Krankenhaus eingeliefert. Daraufhin untersuchten die Behörden alle im Hotel verbliebenen 15 Gäste vorsorglich. Ergebnis: Keine Krankheitssymptome, keine akuten Auffälligkeiten.
Die Diskrepanz zwischen den Erkrankten und den 15 symptomfreien Gästen erschwert die Ermittlungen zusätzlich: Weder lässt sich das Hotel als Ursache ausschließen, noch gibt es eine klare Bestätigung.
Ermittlungen in mehrere Richtungen
1. Lebensmittel als mögliche Ursache
Die Ermittler prüfen mehrere Stationen:
- Midye vom Straßenstand in Ortaköy
- Speisen im „Golden Kokoreç Midye“
- Lokum aus Fatih
Mehrere Verdächtige wurden festgenommen. Bei drei Personen sind Vorstrafen öffentlich dokumentiert (Betrug, Körperverletzung, fahrlässige Verletzung).
2. Schädlingsbekämpfung im Hotel
Am 11. November fand im Harbour Suites eine Schädlingsbehandlung durch die Firma DSS statt.
Nach dem Auftreten der zwei weiteren Krankheitsfälle wurden festgenommen:
- der Hotelbetreiber
- der Sohn des Inhabers der Schädlingsfirma
- der ausführende Mitarbeiter
Der Staat prüft, ob die Behandlung korrekt ablief und ob eine Kontamination möglich war.
3. Medizinische Bewertung
Die ersten Obduktionen bei Mutter und Kindern ergaben:
- keine eindeutige Todesursache,
- keine klar identifizierte Substanz,
- keine äußeren Verletzungen.
Die endgültigen toxikologischen Gutachten stehen aus.
Rechtlicher Status: kein bestätigter Mordvorwurf
In sozialen Netzwerken ist hin und wieder von „Mordfestnahmen“ die Rede. Das ist faktisch nicht korrekt.
- Die ersten vier Verdächtigen wurden mit dem Vorwurf „taksirle ölüme sebebiyet verme“ (fahrlässige Tötung) in Gewahrsam genommen.
- Für die später Festgenommenen aus dem Hotelumfeld wurde bisher kein spezifischer Tatbestand genannt; es handelt sich um gözaltı (Festnahme zur Befragung).
- Dass die Mordkommission (Cinayet Büro) ermittelt, bedeutet im türkischen System, dass die Todesursache unklar ist – nicht, dass es eine Mordanklage gibt.
Was sicher ist – und was offen bleibt
Sicher
- Drei Tote, ein schwer erkrankter Vater
- Sieben festgenommene Personen
- Offizieller Vorwurf: fahrlässige Tötung
- Mehrere mögliche Vergiftungsquellen
- Unklare Obduktionsergebnisse
- Zwei weitere Erkrankte im Hotel
- 15 symptomfreie Hotelgäste nach Untersuchung
Offen
- Welche Substanz zum Tod führte
- Ob ein einzelner Auslöser verantwortlich war
- Welche Bedeutung die Schädlingsbekämpfung hat
- Ob es sich um unterschiedliche Ursachen handelt
- Ob sich die Erkrankungen im Hotel und in der Familie gegenseitig erklären oder unabhängig voneinander sind
Einordnung
Der Fall ist so kompliziert, weil mehrere Zwischenstationen – Straßenessen, Restaurants, Süßwaren, Hotelbedingungen und eine Schädlingsbehandlung – als Quelle in Betracht kommen. Jede davon könnte für sich oder in Kombination eine Rolle spielen.
Die Behörden sind gezwungen, mehrere Spuren parallel zu verfolgen. Das führt zu einer großen Zahl an Festnahmen, ohne dass daraus bereits eine klare Verantwortung abgeleitet werden kann.
Auffällig sind schnelle Gerüchte in sozialen Medien, die von „Mord“, „böswilliger Vergiftung“ oder „kriminellen Banden“ sprechen. Für all das fehlt bislang jeder Beleg.
Erst die toxikologischen Gutachten werden klären, ob es sich um eine klassische Lebensmittelvergiftung, eine chemische Kontamination, eine Fehlbehandlung oder einen völlig anderen Mechanismus handelt. Bis dahin bleibt der Fall offen.
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