Ich habe hin und her überlegt, ob ich mich hier zu dem Thema äussere, da mir empörter Gegenwind sicher ist. Aber ich denke vielleicht ist eine andere Stimme auch mal interessant und das wird hier sicherlich länger…. ich lebe seit 22 Jahren in der Türkei, und zwar ohne Finanzierung von außen, ich muss meinen Lebensunterhalt hier verdienen, ich darf hier auch wählen und wähle trotz doppelter Staatsbürgerschaft bewusst nicht bei Bundestagswahlen.
Viele Türk:innen aus Deutschland, die für Erdogan gestimmt haben, kommen aus sehr ländlichen Gegenden der Türkei, ihre Eltern waren sehr oft arm und sind deswegen zum Arbeiten nach Deutschland gekommen. Viele haben nie das Gefühl gehabt, akzeptiert und vertreten zu werden. Viel zu lange hat die deutsche Politik die “Gastarbeiter” nur als Bürger zweiter oder dritter Klasse behandelt. Dieses Trauma sitzt tief und mit Erdogan kam dann einer, der ihre Traumata geschickt für seine eigenen Zwecke benutzt hat. Europa und Deutschland sollte hier nicht von oben herab urteilen, sondern vielleicht mal in andere Ecken der Welt schauen, wo die “Auslandstürken” fast überall mit überwältigender Mehrheit für Kiliçdaroğlu gestimmt hat (in den USA z.B. nur 9% der Stimmen für Erdoğan)
Türk:innen pauschal für ihre Wahl zu verurteilen, ist naiv und auch ein bissl arrogant… insbesondere wenn man die Hintergründe nur aus den Medien zu kennen glaubt. Ja, Erdogan kontrolliert den größten Teil der klassischen Medien, aber es gibt durchaus auch Medien, die strikt oppositionell sind – allen voran Halk TV und Haberturk bei den TV-Sendern, Cumhuriyet und Sözcü bei den Zeitungen. Daneben gibt es sehr viele regionale Tageszeitungen, die nicht konzernabhängig sind und daher bunt gemischt.
Anders sieht es online aus. Hat man in den letzten Wochen zum Beispiel Twitter oder TikTok (ja!) verfolgt, konnte man der festen Überzeugung sein, Erdogan hätte absolut keine Chance. Und es gibt sehr viele online Medien, die kritisch berichten können und das auch tun – birGün, Balbala TV (Youtube), OdaTV, Diken, GazeteDuvar um nur einige zu nennen. Das macht es nicht besser, aber es ist eben falsch zu sagen, dass Türk:innen keine Möglichkeit haben, sich zu informieren. Schließlich bieten auch alle großen europäischen Medien Inhalte auf türkisch an.
Was war nun der wahre Grund, dass Erdogan wieder gewonnen hat, trotz der miesen wirtschaftlichen Lage und der mangelnden Gerechtigkeit im Land?
Knapp gesagt: nicht Erdogan hat gewonnen, sondern die Opposition hat wieder mal wegen Kilicdaroglu verloren.
Kilicdaroğlu hat unter anderem auch Russland beschuldigt, mit Fakenews den Wahlkampf zu beeinflussen – Folge: im bei Russen beliebten Alanya brachen die Reservierungen ein. Er hat einen extrem scharfen Kurs gegen Syrer gefahren, mit Parolen die sich in Deutschland kein AfD-Politiker der ersten Garnitur erlauben könnte. Da der Nationalismus über alle Parteigrenzen hinaus aber in der Türkei einen weit höheren Rückhalt in der Bevölkerung hat, gab es nicht wenige, die durchaus mit solchen Parolen einverstanden waren. Insgeheim gestört hat es dennoch viele die zumindest geahnt haben, dass es eine reine Nebelkerze ist, um die eigene Konzeptionslosigkeit über “Erdogan muss weg” und “Die Syrer werden gehen!!! hinaus zu verschleiern.
Viele Stimmen hat ihn auch die Kehrtwendung vom moderaten und versöhnlichen Ton hin zu scharfer türkisch-nationalistischer Rhetorik gekostet – dass der rechtsradikale Ümit Özdağ zuletzt damit protzte, dass man ihm für die Unterstützung Kilicdaroglus den Posten des Innenministers versprochen hätte, hat das Bündnis in den kurdischen Gebieten mehr Stimmen gekostet als die Zustimmung im Rest des Landes ihm verschafft hat.
Auch der Hass, der vielen Erdbebenopfern entgegen geschlagen war, weil in den Erdbebengebieten Erdogan doch wieder die Mehrheit hatte, hat dazu beigetragen. Eine Bekannte, sie würde künftig nur noch für Tiere spenden, die könnten wenigstens nicht wählen. In Tekirdağ wurden dorthin evakuierte Erdbebenopfer nach dem ersten Wahlgang stante pede auf die Strasse gesetzt…
Zudem kam Kilicdaroglu noch mit Versprechungen an, die unfinanzierbar sind oder gar nicht in seiner Entscheidungsmacht lägen – jeder Rentner sollte 15.000 TL (700 Euro) Feiertagsgeld bekommen – zwei mal im Jahr – bei 15 Mio Rentnern. Frauen die nicht arbeiten, wurde ein monatlicher Betrag in Gold versprochen. Visafreiheit für die EU innerhalb von 3 Monaten. Fußballübertragungen im staatlichen Sender TRT frei. Zuletzt twitterte er, es sei für jeden Muslim eine Sünde, nicht für ihn zu stimmen…
Nicht zuletzt ist es die Verantwortung des Oppositionsbündnisses, dass radikal rechte (Zafer) oder islamische (saadet) Parteien ein nicht unerhebliches Gewicht im Parlament haben werden – 34 Sitze hat die republikanische CHP im Vorfeld über ihre eigene Liste an Abgeordnete von Splitterparteien verschenkt, die ohne deren Unterstützung das Parlament nicht mal von weitem gesehen hätten, trotz der Senkung der Untergrenze für den Einzug auf 7 Prozent. Zusammen mit den 4 Sitzen der islamistischen Hüda-Par über die AKP-Koalitionsliste ist das gesamte türkische Parlament jetzt stark nach rechts gerutscht – nur dass das Oppositionsbündnis auf diese Stimmen angewiesen ist – das Regierungsbündnis allerdings nicht.
Ganz offen gesagt habe ich nie geglaubt, dass mit der Wahl von Kilicdaroglu nun Demokratie, Gerechtigkeit und Meinungsfreiheit einziehen würden. Es ging nie um wirkliche Freiheit, sondern einfach nur darum, künftig in (fast) gleicher Manier die eigene Klientel zu bedienen. Und vor allem um das persönliche Machtstreben eines seit Jahren erfolglos gegen seinen Konkurrenten antretenden Politiker, der Morgenluft witterte und ALLE anderen, weitaus aussichtsreicheren Kandidaten weggebissen hat. Mit einem jüngeren, unverbrauchten Hoffnungsträger an der Spitze hätten wir einen Erdrutschsieg gesehen, der dem von Erdogan Anfang der 2000´er Jahre geglichen hätte (und der hatte damals ebenfalls die geballte Regierungs- und Medienmacht gegen sich… OHNE das Regulativ der Online- und sozialen Medien, auf die die Opposition heute setzen konnte)
Nicht zuletzt deswegen ist ja das Bündnis anfang März beinahe geplatzt. Gelernt hat er aus seiner (12.?) Niederlage nichts. Seine Rede gestern kam stockend vom Blatt abgelesen und trotzig, keine Spur von Rücktrittsgedanken, keine noch so gezwungen klingende Gratulation. Erstaunlicherweise hat Meral Akşener (von der ich sonst noch weniger halte wegen ihrer aggressiven Rhetorik) weitaus souveräner reagiert. Es bleibt mit Sicherheit spannend…der Wahlkampf geht weiter, 2024, in weniger als 10 Monaten, finden die ebenso wichtigen Kommunalwahlen statt.